Rendezvous mit einem Baum – Therapieort Wald

Wald

Ein wogendes Blätterdach, Vogelgezwitscher und Tannenduft sollen Stress lindern und das Immunsystem stärken? Was in Japan als Shinrin-yoku (Waldluftbad) schon seit den 1980er-Jahren Therapiekonzept ist, wird nun auch hierzulande vermehrt wissenschaftlich untersucht. Auch unsere Autorin hat auf der Suche nach Heilung im Wald gebadet. 

Blockade! Schreibblockade … Sie hatte mich getroffen, die gefürchtete Krankheit aller Schreiberlinge. Ich hatte mir diverse Materialien besorgt, Infos recherchiert, Interviews geführt und viel gelesen, aber die Worte wollten nicht fließen. Also gut, dachte ich, dann gehe ich baden – im Wald.
Nichts einfacher als das, könnte man meinen. Wie schwierig soll es schon sein, so ein Waldbad? Kann ja jeder: sich in der Natur aufhalten, Kraft tanken und erholt und entspannt in den Alltag zurückkehren. Hinter dem Begriff Waldbaden verbirgt sich jedoch mehr als nur ein Aufenthalt in freier Wildbahn. Es geht weit über Spazierengehen, Wandern oder Joggen im Grünen hinaus. Das Therapiekonzept „Shinrin-yoku“ hat seinen Ursprung im Japan der 1980er-Jahre. Es begann als staatliches Gesundheitsprogramm und Ausgleich zur 60-Stunden-Arbeitswoche. Die Menschen sollten so dazu gebracht werden, um ihrer Gesundheit willen mehr in die Natur zu gehen. Seit 2004 erforschen japanische Wissenschaftler den gesundheitsfördernden Einfluss von Wäldern, Parks und Grünanlagen auf uns Menschen. Qing Li, Professor für Umweltimmunologie an der Nippon Medical School in Tokio, ist einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet. In mehreren Studien hat er zusammen mit Kollegen gezeigt, dass schon ein kurzer Spaziergang durch den Wald unsere Gesundheit positiv beeinflussen kann. Dort ist zu lesen, dass die Zahl der für den menschlichen Körper wichtigen Killerzellen steige und das Immunsystem sich verbessere. Schon eine Stunde im Wald könne Blutdruck, Kortisol und Puls senken.
Und auch in Deutschland erobert die Waldtherapie immer stärker ihren Platz in Wissenschaft und Praxis. An der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) gibt es den Lehrstuhl für Public Health und Versorgungsforschung mit einem Schwerpunkt zum Thema. Unter anderem wurde dort mit einem Gutachten der Weg für Deutschlands ersten Kur- und Heilwald in Heringsdorf auf Usedom bereitet, seit 2017 einzigartig in ganz Europa.

Buch-Tipp
„Waldbaden. Mit der heilenden Kraft der Natur sich selbst neu entdecken“ von Annette Bernjus und Anna Cavelius, mvg-Verlag 2018, 14,99 Euro.

Im Schneckentempo durch den Wald

Um das „Mehr als Spazierengehen“ nun selbst zu erleben, starte ich mein Bad nicht unvorbereitet. Ich habe mir vorher Tipps bei einer „Waldbademeisterin“ geholt (siehe Kasten). „Waldbaden ist nicht wie eine Wanderung, die ein Ziel hat, oder wie das Joggen im Grünen, um die Kondition zu verbessern“, sagt mir Annette Bernjus, Deutschlands erste Waldbademeisterin aus Lorsbach im Taunus. „Man taucht in den Wald ein und schult bewusst alle Sinne, um ihn zu erleben – bei zwei Stunden im Wald sollte man daher nicht mehr als zwei oder drei Kilometer zurücklegen“, empfiehlt sie. Hört sich nach Schneckentempo an, ist aber wirklich hilfreich, um so richtig herunterzukommen und sich einzulassen, stelle ich fest. Die Langsamkeit hilft spüren! Ich versuche mich im Shinrin-yoku. Beim Einatmen fallen mir die unterschiedlichen Gerüche auf: Kiefernnadelduft mischt sich mit dem von Waldmeister. Etwas raschelt, es ist nicht die vermutete Maus, sondern eine Amsel. In einigen Wegbiegungen ist es kühler, in anderen wärmer. Ich befühle Baumrinde und Moos. Ich esse sogar ein junges Buchenblatt, es schmeckt ein bisschen wie Sauerampfer. Dann suche ich mir einen Baum, an dem ich Rast mache und den ich mit allen Sinnen zu erkunden versuche. Über diesen Wahrnehmungen und Gedanken vergesse ich alles: Alltag, Verpflichtungen, sogar mich selbst.

Das Parfüm der Pflanzen

Neben diesem direkt spürbaren Effekt wirkt mein Waldbesuch aber auch auf einer anderen unsichtbaren Ebene auf mich, folgt man den Forschungen und Auswertungen von Angela Schuh, Professorin am LMU-Lehrstuhl, und ihrer wissenschaftlichen Mitarbeiterin Gisela Immich. Neben den flüchtigen Pflanzenduftstoffen (Terpenen) wirkt besonders das spezifische Waldklima ausgleichend auf den Menschen. Der Duft des Waldes, das gedämpfte Licht und die gedämpften Geräusche beeinflussen unser Wohlbefinden auf verschiedenste Weise. Wir entspannen uns, atmen gleichmäßiger und tiefer. In der Folge wird das Immunsystem angeregt, der durch Stress erhöhte Kortisolspiegel sinkt. Zudem entlastet die hohe Luftqualität im Wald unsere Atemwege und die Haut.

Die Natur als Reha-Einrichtung?

Doch den Wald als reine Reha-Einrichtung zu sehen, würde seiner verwunschenen und wilden Schönheit nicht gerecht. Der Präventions- und Therapiegedanke muss nicht mit der Freude an einem langen Waldspaziergang oder der üblichen Jogging-Runde in Wettstreit treten. Nutzen wir den Wald vielfältig und freuen wir uns, dass sich seine positive Wirkung mit einem gezielten Waldbad noch verstärken lässt.
Ich habe meinen Lieblingsbadeplatz gefunden: eine einsame und sonnendurchflutete kleine Lichtung, die einen Blick in die Ferne erlaubt. Mein Sprung ins Blättermeer hat mir noch mehr Facetten gezeigt, mich achtsamer gemacht für Kleinigkeiten und die Lust geweckt, künftig noch intensiver einzutauchen. Vielleicht nicht nur für ein paar Stunden, sondern gar für einige Tage. Ich bin dann mal im Wald … rs //

10 Tipps für ein Waldbad

1. Schlendern: Gehe langsam, ohne Ziel oder Dauer festzulegen!
2. Rasten: Halte inne, überanstrenge dich nicht, lege Pausen ein!
3. Wahrnehmen: Erlebe deine Umgebung ohne Druck, betrachte und genieße deine Umwelt mit allen Sinnen!
4. Staunen: Entdecke Bekanntes neu, lege ein Mandala, sammle die Früchte des Waldes!
5. Sanfte Bewegungen: Balanciere auf Stämmen und hüpfe über Steine! Mache Yoga, wenn du es kannst!
6. Achtsamkeit: Sei ganz im Moment, nimm alles wertfrei wahr!
7. Augenentspannung: Schau in das ferne Grün und entlaste deine Augen!
8. Atmen: Beobachte deinen Atem, lass ihn kommen und gehen!
9. Meditation: Sammle dich und finde zur Ruhe! (Anfänger sollten sich anleiten lassen.)
10. Solozeit: Schweige, träume und genieße das Alleinsein!

Expertenintervier mit Annette Bernjus

Seminarleiterin für Waldbaden, Entspannungspädagogin, Natur- und Umweltpädagogin, Mediationslehrerin und Buchautorin. www.waldbaden.com

Wie sind Sie zum Waldbaden gekommen?

Ich habe davon gelesen und gedacht, das mache ich doch eh schon. Ich bin Waldeigentümerin und daher schon sehr naturnah groß geworden. Ich unterrichte unter anderem Tai-Chi und Qigong und gehe mit meinen Kursteilnehmern schon immer raus in die Natur. Dass sich inzwischen auch Wissenschaftler verstärkt mit der Thematik beschäftigen, ist für viele nun das ausschlaggebende Argument, auch mal ein Waldbad zu nehmen.

Sie bieten Waldbaden-Seminare im Taunus an. Wie muss man sich das vorstellen?

Viele Menschen gehen nicht mehr allein in den Wald und freuen sich über ein Angebot wie meines. Ich als Kursleiterin gebe Impulse und mache mit den Teilnehmern Übungen zu Achtsamkeit, Wahrnehmung und Atmung. Ein bewusstes Schulen aller Sinne sozusagen. Intensives Waldbaden geht nicht unter zwei Stunden, besser man gönnt sich drei oder vier Stunden oder einen ganzen Tag. Viele Strecken legen wir schweigend zurück, haben aber auch Proviant dabei, um zu verweilen und uns bei Bedarf auszutauschen.

Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Waldbaden und Waldtherapie?

Beim Waldbaden geht es hauptsächlich um Prävention und eine Stärkung des Immunsystems, es ist für jedermann machbar und hat eine gewisse Leichtigkeit. Das alles kann die Waldtherapie zwar auch, aber bei ihr steht eher der therapeutische Nutzen im Vordergrund. Man geht mit dem Ziel in den Wald, die Heilung bestimmter Krankheiten zu unterstützen, oder bekommt beispielsweise Fragen mit auf den Weg im Rahmen einer Gesprächstherapie.

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