Einmal tief ausatmen!

 

Der Stau am Morgen, Zeitdruck oder Haushalt: Es gibt vieles, was uns täglich stresst. Damit die Anspannung nicht zum Dauerzustand wird, sollten wir lernen, uns selbst zu beruhigen. Wie das geht? Unsere Autorin hat mit einer Expertin für Selbstberuhigung gesprochen.

Ein wichtiges Meeting steht bevor. Ich bin ganz darauf fokussiert, als ich eine Smartphone-Nachricht von unserer Tagesmutter erhalte. Meine kleine Tochter weine viel, es wäre gut, wenn wir sie heute früher abholen könnten. Mein Puls schießt nach oben. Oh nein, nicht jetzt! Heute geht es wirklich nicht. Ich spüre Gewissensbisse. Das Meeting beginnt, ich sehe ständig auf die Uhr, bin nicht gut drauf. Just als das Meeting endet, erhalte ich eine Nachricht von der Tagesmutter: Entwarnung, meine Tochter sei wieder gut drauf. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Umsonst den Stress gemacht. „So ist es doch oft: Viele Probleme lösen sich von selbst“, erzählt mir Michaele Kundermann, die ich wenige Tage später treffe. Die Therapeutin ist Expertin für die Psychologie der Emotionen und emotionale Kompetenzen. 2018 hat sie das Buch „Emotionale Stresskompetenz. Die Kunst der Selbstberuhigung“ veröffentlicht. Seit 1996 bietet sie auch Kurse zu diesem Thema an. „Wir machen uns im Alltag zu viele Sorgen, die uns in Stress bringen. Dabei sind es oft nur Angst-Fantasien“, erläutert sie.

Raus aus dem Stressmodus

Laut Kundermann kann sich das Gehirn des Menschen in zwei Zuständen befinden: Heurekum und Panikum. „Heurekum ist ein angenehmer, leistungsfähiger Zustand des Nervensystems, der uns ein Lächeln auf das Gesicht zaubert“, erklärt sie. „Panikum ist unser uraltes elementares Schutzsystem, das unser Überleben sichern soll.“ Wenn also ein Auto auf uns zurast, ermöglicht uns dieser Überlebensmechanismus, blitzschnell zur Seite zu springen. Allerdings sind lebensgefährliche Situationen in unserem Alltag extrem selten geworden. Dennoch befänden sich die meisten Menschen fast ständig im Panikum-Stressmodus, so Michaele Kundermann. Was ihnen jedoch nicht bewusst sei: Sie erzeugten ihn selbst. „Der emotionale, ungesunde Stress beginnt mit Gedanken wie ‚Oh nein, das darf nicht sein,‘“ erklärt sie. „Sie kommen aus einem inneren Widerstand, der für unsere Stress-Feuerwehr eine Bedrohung signalisiert – das Zeichen zum Ausrücken.“ Ich überlege und plötzlich fallen mir zahlreiche Situationen ein, die mich täglich in Stress versetzen. Die lange Schlange im Supermarkt, wenn man sowieso schon Zeitdruck hat, der Autofahrer, der einem die Vorfahrt nimmt, ganz zu schweigen vom täglichen Jonglieren zwischen Arbeit, Familie und Haushalt. Über all das kann man sich jeden Tag aufregen. „Aber führt das zu Lösungen?“, fragt Michaele Kundermann. „Im Stressmodus bewegen wir uns nur auf bekannten Bahnen und finden keine kreativen Lösungen. Deshalb ist der erste Schritt: Raus aus dem Stresszustand.“ „Aber wie?“, frage ich. „Die Situation annehmen, anstatt Widerstand dagegen zu entwickeln“, rät die Expertin. „So durchbrechen Sie die Stressspirale und wechseln zurück in den Heurekum-Zustand, in dem Sie sich energiegeladen und leistungsfähig fühlen.“ Im zweiten Schritt könne man sich fragen, was man konkret in dieser Situation ändern könne. „Denn annehmen heißt nicht hinnehmen.“

Ich verstehe. Also statt sich in der Supermarkt-Schlange zu ärgern, lieber das Smartphone aus der Tasche holen und die Zeit sinnvoll nutzen. Oder ein paar Mal tief durchatmen und an etwas Angenehmes denken. „Es geht darum, die eigenen Gedanken zu disziplinieren“, meint Michaele Kundermann. Wer am Morgen entscheide, dass der Tag super werde, erlebe auch mehr Großartiges.

Sich erlauben zu scheitern

Okay, denke ich, so funktioniert also Selbstberuhigung auf der alltäglichen Ebene. Doch was ist mit Situationen, in denen Menschen unmittelbar aufgeregt sind? Zum Beispiel – wie in meinem Fall –, wenn ich vor einer großen Gruppe sprechen muss? Enge Kehle, Herzrasen, Schweiß, zittrige Stimme, Blackout – seit Beginn der Gymnasialzeit kenne ich diese Aufregung.

„Es gibt einen Grund, warum Sie so reagieren“, sagt Michaele Kundermann. „Irgendwann haben Sie einmal etwas Unangenehmes erlebt, als Sie gesprochen haben.“ Ich nicke. Lacher, Häme, Spott – das galt in meiner Schulzeit vielen, auch mir. Doch wie gehe ich mit diesen Verletzungen um, die mich offensichtlich 20 Jahre später immer noch hemmen? „Ganz wichtig ist, dass man sich selbst in seiner Aufregung akzeptiert. Wir bekommen dieses Flattern nur, weil wir uns nicht erlauben, vermeintlich zu scheitern. Wer diese Einstellung ändern kann, schleift bei jedem Sprechen Unsicherheit aus und gewinnt Zuversicht.“ Leichter gesagt als getan, wenn einen die Emotionen überwältigten. „Ihre Emotionen wollen Sie vor weiteren Verletzungen beschützen“, erklärt Kundermann. „Deshalb müssen wir sie besänftigen und mit uns selbst beruhigend sprechen. Das kappt die Bedrohung.“ Ich nicke langsam. Michaele Kundermann sieht mir meine Nachdenklichkeit an und lächelt: „Wir sind doch auch mit unseren Kindern gnädig – warum sind wir das nicht mit uns selbst?“

jab //

Unser Extratipp

Führen Sie ein Dankbarkeitstagebuch

Um Selbstberuhigung zu lernen, hilft es, eine positivere innere Haltung entwickeln. Ein Dankbarkeitstagebuch ist eine gute Unterstützung. Darin notiert man nur positive Seiten des Lebens: Wofür bin ich generell dankbar? Auf welche Erfolge kann ich zurückblicken? Oder man hält jeden Abend drei Dinge fest, für die man an diesem Tag dankbar war. Sobald man darin liest, spürt man einen wohltuenden Effekt.

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