Der Pflanzenkraft auf der Spur

Kräuterwandern

Sie bereichern den Speiseplan, ergänzen die Hausapotheke und lassen sich sogar zu Kosmetik verarbeiten: Kräuter und Heilpflanzen aus heimischen Gefilden. Doch wer kennt sich heute noch mit den oft unterschätzten grünen Superhelden aus? medpex war unterwegs mit einer „Kräuterhexe“.

Wir haben kein Auge für die Landschaft, die uns umgibt. Die bewaldeten Hügel der Region um den Schauinsland bei Freiburg interessieren uns nicht. Unser Blick ist nach unten gerichtet – auf das Grün zu unseren Füßen. Auf einer Höhe von ungefähr 1 100 Metern folge ich meiner persönlichen „Kräuterhexe“ Marion Quaschning, die mich in die Welt der Heil- und essbaren Wildkräuter entführt. Die 50-Jährige ist Quereinsteigerin. Lange arbeitete die gelernte Bankkauffrau und Volkswirtin als selbstständige Beraterin für Ingenieure und Lehrer. Heute hat sie sich ganz dem verschrieben, was die meisten „Unkraut“ nennen, wenn es im Garten zwischen den akkurat gekürzten Rollrasen-Halmen hervorlugt. Sie bietet Seminare, Workshops und Führungen rund um die Themen Heilpflanzen, pflanzliche Naturkosmetik und Wildkräuterküche an und entwickelt spannende Pflanzen-Lernspiele.

Die Kraft der Pflanzen nutzen Menschen schon seit Jahrhunderten. Sie bereicherten damit ihren Speiseplan, verwendeten sie zur Linderung von Beschwerden, lebten von und mit dem, was die Natur ihnen bot. Mit der Zeit technisierte sich die Verwendung der Kräuterwirkstoffe. Forschung und Wissenschaft extrahierten einzelne Inhaltsstoffe, industriell hergestellte Medikamente entstanden. Mit dieser lebenswichtigen Entwicklung verschwanden jedoch Heilkräuter und das Wissen um sie mehr und mehr aus unserem Alltag. Dabei hält die Natur selbst jetzt im Herbst noch eine große Auswahl an Grünzeug bereit, das wir auf vielfältigste Weise nutzen können. Man muss es nur erkennen – und genau dafür habe ich Marion, die ich auf dem wunderschön gelegenen Kräuterlehrpfad bei Hofsgrund im Schwarzwald begleite, um mehr über die grünen Superhelden zu meinen Füßen zu erfahren.

Pflanzen oder Finanzen?

Vor 15 Jahren hatte Marion sich neben ihrer recht trockenen Tätigkeit in der Finanzwelt für eine Ausbildung zur Gesundheits- und Ernährungsberaterin entschieden. Ihre intensive Beschäftigung mit der Ernährung und deren Einfluss auf den Menschen begann. Der Vortrag einer Heilpraktikerin über Entschlackung mit Bitterstoffpflanzen gab dann 2011 den Ausschlag. „Ich wusste sofort: Das ist es! Das alles wächst vor meiner Haustür, damit will ich mich intensiver beschäftigen. Dass es mal so intensiv wird, hätte ich nie geglaubt“, sagt sie lachend. Sie beginnt die nächste Ausbildung, zunächst zur Heilpflanzenexpertin und direkt im Anschluss daran zur Kräuterpädagogin, wieder pa-rallel zum Job. Sie ist begeistert davon, Pflanzen mit allen Sinnen zu erfassen, wie sie riechen, schmecken, sich anfühlen: „Beifuß oder Schafgarbe schmecken bitter, Eibisch- oder Huflattichblätter sind samtweich, der Stechende Hohlzahn ist ganz spitz.“ Und ihre Begeisterung ist ansteckend – ich rieche, schmecke und fühle fleißig alles, was Marion mir zeigt.

Pure Pflanzenkraft

Die erste Pflanze, auf die sie mich aufmerksam macht, ist der Vogelknöterich. Ganz unscheinbar ist er mit winzig kleinen weißen Blüten. Er enthält viel Kieselsäure, erklärt Marion. Den Stoff, der Haare, Haut und Nägel stärken soll und in vielen Vitaminpräparaten und Kosmetika zu finden ist. Um diesen und andere Inhaltsstoffe aus Pflanzen zu gewinnen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. „Am Anfang steht immer die Frage, welche Stoffe eines Krauts ich haben möchte“, sagt die gebürtige Schwäbin. Zum einen gibt es beispielsweise den Teeaufguss für wasserlösliche Stoffe – im Fachjargon Infus genannt. Die ebenfalls wasserlöslichen „Pflanzenschleime“ werden hingegen durch einen Kaltwasserauszug (Mazerat) gewonnen. „Bei Pflanzen mit leicht flüchtigen ätherischen Ölen ist es wichtig, die Tasse abzudecken, während der Tee zieht – sonst sind die größtenteils verschwunden“, erklärt sie. Die nächste Möglichkeit, Kräuter für die Hausapotheke nutzbar zu machen, sind alkoholische Auszüge, sogenannte Tinkturen. Dazu übergießt man frische oder getrocknete Kräuter mit Alkohol und lässt das Ganze einige Wochen stehen. Tägliches Schütteln oder Schwenken muss allerdings sein, das hilft, die Stoffe aus den Pflanzen zu lösen. Die dritte Variante ist das Einlegen in Öl, um an die fettlöslichen Inhaltsstoffe der Pflanzen zu kommen – auch immer verbunden mit liebevollem Schwenken, wie Marion es nennt. Auf diese Art und Weise wird zum Beispiel aus Echtem Johanniskraut das bekannte „Rotöl“ hergestellt, das eine antibakterielle und entzündungshemmende Wirkung haben soll.

An einer alten Bekannten gehe ich unaufmerksam vorbei. Marion ruft mich zurück: „Die Brennnessel ist eine der kraftvollsten Pflanzen, auch wenn sie für viele nur lästiges Unkraut ist.“ Von dieser Pflanze lässt sich wirklich alles verwenden. Die Samen beispielsweise kann man direkt frisch von der Pflanze essen. Ich brösele mir welche in die Hand und probiere. Sie schmecken leicht nussig und irgendwie grün – gar nicht übel. Diese Samen enthalten Eiweiß und essenzielle Fettsäuren und sollen, so sagt der Volksmund, allgemein stärkend wirken. „Außerdem fördern sie angeblich die Potenz“, schmunzelt Marion. Auch den Speiseplan bereichert die Pflanze: Die Samen schmecken angeröstet über Salaten und im Müsli oder in Smoothies kombiniert mit Früchten und anderen Wildkräutern. Die Blätter sollte man vor dem Genuss aber blanchieren, um die Brennhaare unschädlich zu machen, dann lassen sie sich prima als Spinatersatz verwenden oder mit normalem Spinat mischen. Auch in der Apotheke finden sich heutzutage unzählige Produkte mit den Wirkstoffen der Brennnessel, angefangen beim Brennnessel-Tee, der zur Entwässerung oder bei Harnwegsinfekten eingesetzt wird.

Kräuter für innen und außen

Irgendwann zähle ich nicht mehr mit, wie oft wir stehen bleiben, weil Marion wieder ein Pflänzchen entdeckt hat. Ihr Wissen scheint unerschöpflich, meine Aufnahmefähigkeit jedoch nicht. Deshalb freue ich mich umso mehr über das Brötchen mit Kräuterquark, das sie aus ihrem Rucksack zaubert, als wir den Schniederlihof erreichen. Der typische Schwarzwaldhof mit dem tiefgezogenen Schindeldach liegt auf unserem Weg. Er wurde Ende des 16. Jahrhunderts erbaut und wirkt ein bisschen märchenhaft. Von hier aus können wir weit ins Tal und auf den Feldberg, den mit 1 493 Metern höchsten Berg des Schwarzwalds, blicken. Heute ist der Hof ein Heimatmuseum und nur zu bestimmten Zeiten geöffnet. Wir nutzen die Bänke vor dem Haus und machen kurz Rast. Marion hat nicht nur für Verpflegung gesorgt, sondern holt nach und nach immer mehr selbst -gemachte Naturkosmetik aus ihrem Rucksack. Darunter einen Melissen-Lippenpflegestift, „grüne Arzneimittel“ wie Husten-sirup oder kulinarische Mitbringsel wie eine Bärlauchbutter. „Damit ihr mal gucken könnt, was ich aus den Pflanzen so alles mache“, lacht sie. Beim ersten Schnuppern an der duftenden Rosencreme ist es um mich geschehen. Marc, der mich heute begleitet, um unsere Tour auch fotografisch festzuhalten, probiert wagemutig den Hustensirup aus Zwiebeln, regionalem Bio-Honig und Thymianblättern. Zu meiner Überraschung sagt er: „Lecker!“

„Die Zwiebel ist ein altbewährtes Hausmittel zur Linderung von krampfartigem oder zur Schleimlösung bei produktivem Husten. Das blühende Kraut des Thymians enthält unter anderem ätherische Öle, die krampflindernd und keimhemmend sind, sowie Saponine, die schleimlösend wirken. Diese Kombination macht den Sirup zu einem der besten pflanzlichen Hustenmittel“, erklärt Marion. Und anscheinend harmoniert die Kombination ja auch geschmacklich. Die Herstellung ist denkbar einfach: gewürfelte Zwiebeln mindestens ein bis zwei Stunden mit Honig und klein geschnittenem Thymian in einem breiten Glas ziehen lassen. An der Oberfläche bildet sich ein dünnflüssiger -Sirup, den man löffelweise über den Tag verteilt einnimmt.

„Was in meinen Kursen auch immer super ankommt, sind Roll-on-Fläschchen für unterwegs, die entweder mit Spitzwegerichtinktur bei Mückenstichen oder mit Pfefferminztinktur bei Kopfschmerz und Reiseübelkeit gefüllt sind“, sagt Marion. Wenn sie erzählt, merkt man, dass sie sich am liebsten rund um die Uhr mit Kräutern beschäftigen würde. Kein Wunder, dass sie 2013 den entscheidenden Schritt wagte, aus dem Job ausstieg und sich als Kräuterpädagogin und Autorin für Pflanzen-Lernspiele selbstständig machte. Seitdem vermittelt sie interessierten Menschen wie mir auf Seminaren und Wanderungen ihr großes Kräuter-Fachwissen.

Mich hat ihre Begeisterung jedenfalls angesteckt. Auf unserem Ausflug in die Parallelwelt der grünen Superhelden habe ich auch gelernt, achtsamer zu sein. Pflanzen, die ich sonst mit meinen Wanderschuhen zermalmt habe, sehe ich mit neuen Augen. Vieles auf und neben Wanderwegen ist essbar und bei den unterschiedlichsten Zipperlein zu gebrauchen. Einiges ist aber auch giftig und sollte nicht unbedingt zwischen den Zähnen oder auf der Haut landen. Da Marions Wissensschatz die Speicherkapazität meines Gehirns überschritten hat, werde ich mir zu meiner eigenen Sicherheit auf jeden Fall ein Pflanzenbestimmungsbuch zulegen – nicht, dass die nächste Kräuterwanderung meine letzte sein wird …

10 Tipps zum Kräutersammeln

  1. Nur Kräuter sammeln, die man wirklich kennt und zu 100 % identifiziert hat. Entweder mit einem Bestimmungsbuch oder einer sachkundigen Begleitung. Dabei aber Naturschutzgebiete und geschützte Pflanzen beachten.
  2. Der optimale Erntezeitpunkt kann je nach Pflanzenart variieren. Kräuter am besten bei Trockenheit pflücken. In der sommerlichen Mittagssonne, unter Sonneneinstrahlung entfaltet sich die Wirkung optimal. Wurzeln am besten im Frühjahr oder im Herbst ernten.
  3. Jüngere Kräuter bevorzugen, sie schmecken milder und frischer.
  4. Kräuter niemals ausreißen, sondern einzelne Pflanzenteile sorgfältig abzupfen oder abschneiden. Ein Keramikmesser schneidet am schonendsten.
  5. Keine nassen Kräuter pflücken, sie können beim Trocknen schimmeln.
  6. Nur so viele Kräuter sammeln, wie Sie verwerten können, da die Wirkung abnimmt, je länger sie lagern.
  7. Ein Sammelplatz in der freien und unberührten Natur ist optimal. Hunde-Spazierwege, gedüngte Wiesen und die Nähe zu stark frequentierten Autostraßen am besten meiden.
  8. Kräuter luftig und locker in einem Korb sammeln, nicht quetschen.
  9. Kräuter immer langsam im Halbschatten trocknen lassen und öfter wenden. Alternativ können die Kräuter frisch verarbeitet werden. Luft- und lichtdicht aufbewahren.
  10. Beim Kochen Kräuter nur leicht mit Wasser abspülen, immer als letzte Zutat hinzufügen. Blüten sind empfindlich und sollten nicht mit Wasser abgewaschen oder erhitzt werden.

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