Stadt, Land oder doch Speckgürtel?

Blick auf eine idyllische Kleinstadt auf dem Land.

Alle wollen in die Stadt, hieß es noch vor nicht allzu langer Zeit. Ein aktueller Trend besagt nun: Alle wollen aufs Land. Doch welche Ursachen hat die neue Lust aufs Landleben eigentlich und wo suchen und finden die Menschen ihr Glück? Wir haben mit Bewohnern ganz verschiedener Welten gesprochen. 

„Nino entwickelt in letzter Zeit einen richtigen Stadt-Hass“, sagt Wiebke Wittneben über ihren Mann. Dabei ist Nino Ur-Berliner. Und ohne die Stadt, ohne Berlin gäbe es auch nicht die Liebesgeschichte von Wiebke (40) und Nino (28). Dort, auf einer Straße der Millionenstadt, haben sie sich kennengelernt. „Nino hat mich gesehen, ist mir hinterhergerannt und hat mich relativ schnell und für mich sehr unüblich um den Finger gewickelt“, erinnert sich Wiebke an die Begegnung zurück. Die Stadt wird ihr gemeinsames Zuhause.

Die beiden wohnen in einer schönen, großen Wohnung im angesagten Berliner Viertel Friedrichshain, genießen die kulturelle und kulinarische Vielfalt der Metropole. Nino ist Hairstylist, Wiebke arbeitet als freie Redakteurin, Bloggerin und Sprecherin. Ein typisches Leben in einer pulsierenden Stadt. Doch mit der Zeit wird es den beiden zu viel, Nino noch mehr als Wiebke. Die schlechte Luft, der Dreck, die Hektik und der Stress, das sind nur einige der Nachteile, die die beiden aufzählen. „Speziell in Berlin war es uns irgendwann zu rau und ruppig. Dann die ewig lange Fahrerei innerhalb der Stadt, der Stau, die Anonymität, die Scheißegal-Mentalität. Der überall sichtbare Kapitalismus und zu hohe Mieten“, zählt Wiebke noch weitere Gründe für ihren Wunsch nach dem Abschied von der Stadt auf.

»Die Stadt wird uns zu hektisch, die Natur erdet uns. Das lieben wir. Gerade in der schnelllebigen Zeit von heute brauchen wir stabile Wurzeln.«
Wiebke Wittneben

Das Paar sehnt sich nach mehr Natur, Ruhe und Achtsamkeit, nach wirklicher Verbundenheit und mehr Authentizität. Ihre kleine Datsche in einem Brandenburger Dorf soll nun ihr neues Zuhause werden. Lange Zeit nutzen die beiden das Häuschen nur als Sommerhaus, dann werden die Zeiträume, die sie auf dem Land verbringen, immer länger. „Wir haben immer samstags die Taschen gepackt und sind raus nach Brandenburg gefahren. Erst am Dienstagmorgen sind wir wieder nach Berlin zurück“, sagt Wiebke.

Das reicht ihnen nun nicht mehr. Sie renovieren das Haus so, dass sie künftig dauerhaft mit Hund Carlos und Katze Ella fernab von Berlin leben können. „Wir wollen Obst und Gemüse anbauen, jeden Tag mit nackten Füßen durchs Gras laufen und gute Luft atmen können. Wir wollen uns selbst entschleunigen und auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist: unser Glück und neue Projekte“, erklärt Wiebke. Die Wohnung in Berlin wollen sie aber erst mal behalten und vielleicht zeitweise vermieten. „Noch sind wir in der Umbruchphase, die wir als bewusstes Loslassen sehen – und die ist und bleibt sicher spannend.“

Was treibt die Menschen aus der Stadt?

Die Ursachen der Stadtflucht sind vielfältig. Fast immer ist es der Wunsch nach mehr Naturverbundenheit und Ruhe, besserer Luft, weniger Lärm und Verkehr, so wie bei Nino und Wiebke. Aber auch die immer weiter ansteigenden Mietpreise vor allem in den Metropolen sind ein großer Faktor. Eine Studie von 2016 belegt, dass im Jahr 2014 zum ersten Mal mehr Deutsche aus Berlin, Hamburg und den fünf anderen größten deutschen Städten wegzogen, als neu hinzukamen. 2019 beleuchtete die ZEIT in einem Schwerpunktbeitrag die Mietpreissituation in Deutschland: In Berlin lag die Miete für eine neu angemietete Wohnung mit 10,49 Euro pro Quadratmeter 42 Prozent höher als noch 2012. Ein Schnäppchen im Vergleich zu den anderen Millionenstädten, denn in Hamburg liegt die mittlere Miete bei 11,59 Euro, in Köln bei 11,13 Euro pro Quadratmeter. Und nirgends wohnt man so teuer wie in München mit 17,51 Euro pro Quadratmeter.

Viele junge Familien, aber auch ältere Leute in Rente können sich das nicht mehr leisten. Erwiesenermaßen spielt die jeweilige Lebensphase der Menschen eine wichtige Rolle: Während die Jüngeren für Ausbildung und Studium in die Großstädte ziehen, wandern Familien oder Ältere in kleinere und mittlere Städte ab. Vor allem die Bevölkerung des sogenannten Speckgürtels, wie großstadtnahe kleinere Städte und Gemeinden bezeichnet werden, wächst. Auch Theresa und Severin Seidel (beide 32) ziehen 2017, als die Familienplanung aktuell wird, nach sieben Jahren des Studierens und Arbeitens in München raus aus der Stadt. Mit Sohn Leon (2) leben sie seitdem in Höhenkirchen-Siegertsbrunn. Die Kleinstadt mit rund 10 000 Einwohnern liegt circa 25 Kilometer außerhalb von München.

„Wir wollten einfach raus aus der Stadt, es war uns da irgendwann zu laut, zu voll und die Luft zu dreckig“, erzählt Theresa. In Höhenkirchen fühlt sich die junge Familie sehr wohl. „Es ist alles da, was man braucht: Naturnähe, mehr Ruhe und Übersichtlichkeit. Und dennoch sind ausreichend Supermärkte, Ärzte, nette Restaurants und Kinderbetreuungseinrichtungen vor Ort. Man kann alles zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen und ist auch schnell draußen im Grünen.“ Anschluss hat die kleine Familie leicht gefunden, da immer mehr junge Familien der Stadt den Rücken kehren. Severin beispielsweise spielt nun nicht mehr Volleyball in München, sondern in der Nähe seines Zuhauses. „Ein bisschen Glück kam auch noch dazu, denn gute Freunde von uns wohnen nur einen Ort weiter“, sagt Theresa.

Dennoch bringt auch das Leben im grüneren Speckgürtel Nachteile mit sich. Die Arbeit zieht schließlich nicht mit um. So muss Severin seit dem Wohnortwechsel jeden Tag mit der S-Bahn nach München pendeln. Theoretisch braucht er gute 30 Minuten, doch die Realität ist eine andere. „Die Pendelei ist sehr aufwendig, weil es oft Verspätungen und Ausfälle gibt – mehrfach in der Woche. Pünktlich in der Stadt zu sein, ist daher nicht immer einfach, für mich als Lehrer aber wichtig“, sagt er.

Stadt oder Land?

Kein Wunder, denn so richtig auf dem Land wohnt man im Speckgürtel von Ballungsräumen ja auch nicht, könnten böse Zungen jetzt behaupten. Die harten Fakten besagen Folgendes: Deutschland hat laut Statista aktuell vier Millionenstädte. Das sind Berlin, Hamburg, München und Köln. Eine Großstadt hat mehr als 100 000 Einwohner, gefolgt von der Mittelstadt mit 20 000 bis 100 000 Einwohnern und der Kleinstadt mit 5 000 bis 20 000 Einwohnern. Städte und Gemeinden mit unter 5 000 Einwohnern nennt man Landgemeinde.

Umgangssprachlich sprechen wir eher von Dörfern. So weit die Zahlen. Doch für die Menschen hat die Antwort auf die Frage „Stadt, Land oder Speckgürtel?“ oft mit individuellen Bedürfnissen oder Vorlieben zu tun: Für den einen ist die kleine 10 000-Einwohner-Stadt im Speckgürtel von München schon ländlich genug, den anderen zieht es in ein einsames bretonisches Landhaus, fernab von allem Trubel.

Ab in die Pampa!

Für Stefani Hansen (53) und Michael Sterzel (64), die ursprünglich aus Norddeutschland stammen, kann es nach abenteuerlichen Jahren auf den Weltmeeren gar nicht ruhig und naturnah genug sein. Stefani lebte zunächst lange glücklich in Hamburg und genoss das abwechslungsreiche Stadtleben, bevor der Wunsch nach einem anderen Abenteuer in ihr wuchs. „Irgendwann wurde das Grundgefühl ein anderes, und was vorher so schillernd und großartig war, wurde fade“, erinnert sie sich. Als sie 1997 ihren Segelschein macht, lernt sie Michael kennen, der auf dem Boot als Skipper arbeitet. Zwei Jahre später nimmt sie Abschied von Hamburg und heuert gemeinsam mit ihm auf einem Segelboot an.

Seitdem schippern sie über die Weltmeere. Daran, was nach diesem abwechslungsreichen Lebensabschnitt kommen soll, arbeiten die beiden seit 15 Jahren. 2003 kaufen sie ein altes Landhaus in der südlichen Bretagne, das sie seitdem in ihren Sommerurlauben renovieren. „Uns war damals von Anfang an klar, dass es das perfekte Haus nicht gibt. Wir haben uns drei Wochen gegeben und beschlossen, dass wir in dieser Zeit etwas finden wollen. Nur ein kompletter Abschied vom Meer durfte es nicht sein.

Das Meer in erreichbarer Nähe, das war einer der Gründe, warum unsere Wahl auf die Bretagne fiel“, verrät Stefani. Schnell entsteht die Idee, ein B&B (in Frankreich Chambres d’Hôtes genannt) daraus zu machen. Während der Renovierungsphase leben Stefani und Michael in einem Wohnwagen, um das Haus gleich komplett entkernen zu können. „Die Zeit im Wohnwagen würde ich nicht eintauschen wollen! Der Platz unter den Bäumen, die in den 15 Jahren zu stattlichen Ahörnern wurden, die Rehe, die täglich vorbeikamen, und dass wir so viel draußen gelebt haben, war eine tolle Erfahrung“, erinnert sich Stefani.

Inzwischen ist das Haus so gut wie fertig und ab Oktober 2020 sollen die ersten Gäste einziehen. „Dann wird unser Alltag darin bestehen, Gäste zu empfangen, für sie zu kochen, den Gemüsegarten zu beackern und das Grundstück zu pflegen.“ Dass dieses Leben auf dem Land, mit Gemüsegarten und eigenen Hühnern, das ist, was Stefani und Michael künftig führen wollen, dafür hat es laut den beiden „zehn Jahre des Lebens und Arbeitens auf verschiedenen Weltmeeren gebraucht“.

Gemeinsam mit Michael freut sich Stefani nun auf die Ruhe, das Licht und die Natur und darauf, nicht ständig von so vielen Menschen umringt zu sein. „Hier können wir so sein, wie wir sind, werden nicht von allen möglichen Konsumattacken mitgerissen wie in der Stadt“, sagt Stefani. Und wenn ihnen die Stadt doch irgendwann fehlt? „Dann können wir ja auch einfach mal ein Wochenende in Rennes oder Hamburg bei Freunden, Verwandten oder im Hotel verbringen.“ rs //

Interview : 3 Fragen an Wiebke & Nino

Was hat dich, Wiebke, in die Stadt gezogen?

Ich komme aus einem kleinen Dorf zwischen Hannover und Hildesheim. Das Studium zog mich dann nach Berlin – ich war sofort verliebt in all die Abenteuer, die sich mir boten. All die unterschiedlichen Menschen, die verschiedenen Facetten der Stadt, die unbegrenzten Möglichkeiten. Clubs, Bars, Galerien, Restaurants aus aller Welt und jede Menge „Lass mal machen“-Mentalität. Jeder zieht sich so an, wie er will, lebt, wie er will, und denkt, was er will. Man kann sich jeden Tag neu erfinden. Das fasziniert mich noch heute.

Aus welchen Gründen wolltet ihr aus der Stadt weg?

Die Nachteile der Stadt waren irgendwann zu viele: schlechte Luft, Hektik und Stress, zu viel Bewertung untereinander, die ganze Wichtigtuerei. Am Land lieben wir das Unaufgeregte, die Ruhe, die Naturverbundenheit. Auf dem Dorf misst man sich weniger untereinander, was den Lifestyle angeht. Trends sind nicht so wichtig. Das kann in der Stadt echt nerven. Ich wusste schon lange: Ich muss wieder zurück aufs Land.

Wo seht ihr euch in zehn Jahren?

Gute Frage, die ich mir bewusst nie stelle. Wir planen nicht gern – es kommt meist eh anders. Spontan würde ich sagen: auf dem Land. Aber das muss nicht Deutschland sein. Der Wunsch auszuwandern wächst schon lange in uns heran – es hat nur bei dem Ziel noch nicht „klick“ gemacht. Ich hätte gern immer einen Koffer in Berlin. Zum Glück wohnt Ninos Familie dort.

Mehr zu den Fortschritten von Wiebkes und Ninos Wohnprojekt gibt es auf Instagram unter @gestatten_datsche

Interview : 3 Fragen an Theresa & Severin

Was hat euch in die Stadt gezogen?

Wir haben beide zuerst in Bayreuth studiert. Theresa wollte dann einen Master in Kulturmanagement machen und die Zusage aus München war die erste. Severin wollte eh noch mal sein Studienfach wechseln und hat dann in München Berufsschullehramt studiert. Unsere Wohnung in Nord-Schwabing war toll und sehr zentral gelegen. Innerhalb von zehn Minuten war man mit dem Rad in der Stadt. Total praktisch. Wir hatten Glück mit der Wohnung und Wohnen war damals noch günstiger als heute.

Aus welchen Gründen wolltet ihr aus der Stadt weg?

Die Stadt ging uns irgendwann auf den Keks. Sie hatte zwar viele Vorteile: Man kommt mit dem Rad schnell überall hin und kann kulturell viel erleben. Aber es war uns einfach zu viel Verkehr, und immer wenn man mal ins Grüne wollte, war es da einfach nur voll. Man tritt sich dann auch im Park auf die Füße, es verteilt sich in der Stadt nicht so gut. Das hat uns schon immer ein wenig gestört. Man muss immer irgendwohin fahren, um richtig in der Natur zu sein.

Wo seht ihr euch in zehn Jahren?

Wir denken aktuell darüber nach, wieder in Richtung unserer Heimat Franken zu ziehen. Hier in und um München herum kann man sich als Familie einfach nicht mehr Wohnraum leisten. Und noch weiter raus ohne S-Bahn-Anbindung wollen wir nicht.

Interview : 3 Fragen an Stefani

Was hat dich in die Stadt gezogen?

Ich wollte am Puls der Zeit sein und habe es geliebt, in Hamburg zu leben und zu studieren! Ich wohnte in verschiedenen Stadtteilen, teilweise in WGs und zuletzt in meiner eigenen kleinen Wohnung auf St. Pauli. Die vielen Kultur- und Freizeitangebote, Kneipen und Bars, die Nähe zur Elbe und zum Hafen, der Austausch mit anderen an der Uni – ich hätte mir nie vorstellen können, ohne all das zu leben.

Aus welchen Gründen wolltest du aus der Stadt weg?

Vielleicht liegt es an der Wiederholung – auf dem Weg zur Uni morgens über die Reeperbahn zur U-Bahn zu gehen, war eine Weile lang cool, aber irgendwann so kalt und nüchtern, wie die Reeperbahn bei Tageslicht eben ist. Irgendwann gab es in der Stadt zu viel Lärm, zu viele Gerüche und zu viel Beton für mich. Ich habe mich auch nie dort alt werden sehen. Eigentlich hatte ich das Gefühl, dass das, was die Stadt für mich hergeben konnte, ausgeschöpft war. Da musste es noch ein anderes Abenteuer geben.

Wo siehst du dich/euch in zehn Jahren?

Hoffentlich immer noch da, wo Michael und ich jetzt sind! Allerdings muss es mit der ärztlichen Versorgung auf dem bretonischen Land dann hinhauen. Sonst machen wir aus unseren Chambres d’Hôtes eben kurzerhand eine Alten-WG.

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