Leichtes Gepäck

Die Alpen waren für Thomas schon beeindruckend, , aber am schönsten fand er es, durch die Anhöhen und Täler des bäuerlichen Odenwaldes zu wandern.Immer mehr Deutsche wandern. Weder in Kniebundhosen, noch muss es gleich der Himalaya in Outdoor-Klamotten sein. Bei der neuen Art des Wanderns geht es um ein Gefühl von Freiheit und darum, sich selbst auf neuen Wegen kennenzulernen. Unser Autor traf zwei (neue) Wanderer und erzählt, was den 58-jährigen Thomas und die 36-jährige Leo am Wandern so begeistert.

Da gibt es diesen Song von Silbermond, der geht so: „Eines Tages fällt dir auf, dass du 99 Prozent nicht brauchst. Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg, denn es reist sich besser mit leichtem Gepäck.“
Als Thomas seinen Rucksack packte, wusste er sehr schnell, dass er bei seiner Reise mit so wenig wie möglich auskommen wollte. Aber was heißt Reise? Thomas, Doktor der Physik an der Darmstädter Universität, wanderte vor zwei Jahren eines Morgens in den Semesterferien einfach los – von Darmstadt aus in Richtung Süden. Die Idee dazu kam eher zufällig zustande: Thomas fährt seit Jahren regelmäßig zum Skitourengehen an den Maloja-pass im Engadin. „Rein technisch komme ich im Gelände, auch im Tiefschnee, gut zurecht“, erzählt er. „Aber es hat mich gewurmt, dass meine Kondition zu wünschen übrig ließ.“ Die wollte er verbessern und versprach sich vom Wandern mehr Kondition und auch ein paar Pfunde weniger. Thomas geht heute auf die sechzig zu und sieht blendend aus: ein gesunder Teint, graues Haar lässig nach hinten gelegt, neugierige Augen hinter seiner Hornbrille. Vielleicht hat ihm sein klarer Blick geholfen, schon vor dem Losgehen zu erkennen, was in seinen Rucksack gehört, nämlich so wenig wie möglich: ein superleichter Schlafsack, Luftmatratze und ein kleines Zelt ohne Stangen, denn er wollte auf seiner Wanderung auch draußen schlafen können. „Ich habe stattdessen ein paar Seile mitgenommen, sodass sich das Zelt notfalls irgendwie mit Stöcken aus dem Wald aufbauen oder befestigen ließ.“ Und warum startete er von seiner Haustür aus? Einige Monate zuvor war er im Wald bei Darmstadt jemandem begegnet, der den europäischen Fernwanderweg E1 lief. Dieser führt vom Nordkap bis nach Sizilien; und er geht an Darmstadt vorbei, dann durch den Odenwald und den Schwarzwald. „Ich fand es einfach klasse, von zu Hause aus loszuwandern und nicht erst kompliziert irgendwo hinzufahren. Außerdem gehört zu meinem Verständnis von Wandern auch, mal durch eine langweilige Gegend oder ein Industriegebiet zu laufen, auch das ist ja deutsche oder europäische Landschaft, die ich erfahren wollte“, erzählt Thomas.

Feste Rituale
An die erste Nacht im Freien kann sich Thomas noch sehr gut erinnern. Morgens gab es zu Hause ein Müsli, am Nachmittag in einem Café im Odenwald ein Stück
Kuchen und für den Abend hatte er sich in einem Dorf eine Flasche Rotwein organisiert. „Mein Nachtlager habe ich dann in einer dieser zahlreichen Schutzhütten am Weg aufgeschlagen“, seine Augen strahlen beim Erzählen, als hätte er die Nacht in einem Luxusresort verbracht. Und bereits der erste Tag entsprach seinem Programm der folgenden dreiwöchigen Wanderung: morgens Müsli, spätestens gegen neun Uhr loslaufen, nachmittags Einkehr, Rotwein für den Abend und Milch für den Morgen besorgen sowie kurz vor der Dämmerung einen Schlafplatz organisieren. Gerade die Belohnung mit einem Glas Rotwein am Abend ist ein festes Ritual für den Genussmenschen Thomas: „Abends habe ich einfach da gesessen, den Wein genossen und manchmal mit meiner Stirnlampe ein wenig gelesen. Mit dem Einschlafen hatte ich nach gut acht Stunden Wandern wenig Probleme.“ Thomas’ einziger Luxus: die Luftmatratze statt Isomatte. Der übergeordnete Luxus war für ihn, kein Ziel zu haben und nur nach -seinem eigenen Rhythmus den Tag zu gestalten. „Ich hatte eine Richtung, die hieß Süden und E1, aber ich hatte mir kein Ziel gesetzt. Ich wusste, ich habe drei Wochen, und hatte mir wenig Gedanken gemacht, wie weit ich kommen würde.“ Nach einer Woche, bei Pforzheim, stieß für einige Tage seine Frau Beate dazu. Die beiden schliefen meist in Pensionen oder Jugendherbergen am Weg, da Beate nicht so gern draußen schlafen wollte. Danach lief Thomas eine weitere Woche allein weiter, bis er schließlich oberhalb von Freiburg im Schwarzwald ankam. Hier war seine Reise zu Ende. Stolz erzählt er: „Mit dem ICE bin ich nach Darmstadt zurück. Das hat knapp drei Stunden gedauert und entsprach meinen drei Wochen Wandern! Mein Tagestempo lag bei rund 30 bis 35 Kilometern.“ Eine Stunde ICE gleich eine Woche Wanderdistanz.

Angefixt
Zurück in den Alltag? Mitnichten! Zwar begann nach dem Ende des Urlaubs auch für Thomas wieder der Alltag an der Uni, aber er läuft seit seiner dreiwöchigen Wanderung durch den Süden Deutschlands fast jeden Tag zu Fuß zur Arbeit. Sein Weg führt über Felder und Wald-stücke am Stadtrand entlang und Thomas läuft somit insgesamt zweimal 40 Minuten. Das hält fit! Doch Thomas ist seit seiner ersten Reise schwer vom Wandern angefixt, sodass es seine Frau und seinen Freundeskreis nicht übermäßig verwundert hat, als er im Sommer 2015 wieder loszog. Ganz klar war für ihn, dort zu starten, wo seine erste Reise endete: in Schluchsee bei Freiburg. Nun lief Thomas über die Höhen des Südschwarzwaldes, vorbei an den Vulkanbergen des Hegau durch den Bilderbuchkanton Schwyz, am Vierwaldstättersee vorbei, hoch zum Gotthardpass, über den Gotthard bis nach Bellinzona. Wieder rund drei Wochen. Ein Stück der Schweizer Strecke des E1 ist ein Pilgerweg, ein „Zubringer“ zum berühmten Jakobsweg, der von Frankreich gen Süden nach Santiago de Compostela in Spanien verläuft. „Was hier wirklich toll ist, sind die teils sehr schönen Pilgerhütten oder Pilgerherbergen: gepflegt und günstig. Man merkt sofort, dass man sich auf einem stärker frequentierten Pilgerweg befindet.“

Immer den Muschelzeichen nach
Der Jakobsweg kann aber auch von Süden gestartet werden, von Sevilla aus, und führt dann gen Norden nach Santiago. In diese Richtung ist Leo mit ihrem Freund Zach gelaufen. Leo ist Friseurin in Frankfurt. Eines Tages vor acht Jahren nahm sie eine einjährige Auszeit, eine Art Sabbatical. Andere mussten sich nun um die Haarschnitte der Kunden kümmern. Leo hatte 2003 ihre Ausbildung beendet und nach vier Jahren hinter dem Friseurstuhl wollte sie mehr von der Welt sehen. Da traf es sich gut, dass Leos neuer Freund Zach offen dafür war, die Welt zu erkunden. Im Frühjahr 2007 ging es los. „Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass mein Vater zwei Jahre zuvor, mit nur 60 Jahren, gestorben war. Mit ihm bin ich in meiner Heimat, der Rhön, immer viel gewandert“, überlegt Leo rückblickend. Zunächst ging es für Leo und Zach mit dem Zug nach Südfrankreich, zuerst nach Narbonne, dann weiter nach Barcelona. „Erst unterwegs kamen wir auf die Idee, den Jakobsweg laufen zu wollen – aber in umgekehrter Richtung, von Süden aus.“ Die beiden trampten nach Sevilla, wo der Weg beginnt. Der Vorteil dieser Route ist, dass sie weniger bekannt ist als der in Südfrankreich beginnende Pilgerweg und daher weniger Menschen unterwegs sind.
Schnell stellten Leo und Zach jedoch fest, dass sie eindeutig zu viel Gepäck dabeihatten. Alles, was sie nicht brauchten, schickten sie per Post nach Deutschland zurück. „Aber unsere Rucksäcke waren immer noch recht schwer, mein Rucksack wog um die 15 Kilo, der meines Freundes um die 17“, sagt sie. Im Gegensatz zu Thomas, der seinen festen Tagesrhythmus hatte, was sicherlich auch an seinem knapperen dreiwöchigen Zeitfenster lag, legten Leo und Zach ein paar längere Pausen ein und blieben einfach ein paar Tage an Orten, die ihnen gefielen. Zum Schlafen suchten Leo und Zach abends die Nähe zu einer Pilgerherberge mit sanitären Anlagen. „Wir haben dennoch meist draußen geschlafen, oder auf einer überdachten Terrasse, denn das Frühjahr war sehr verregnet.“ Der Jakobsweg ist immer gut mit gelben Pfeilern und dem Erkennungs-zeichen der Muschel ausgeschildert. Insgesamt brauchten Leo und Zach für die 1 000 Kilometer von Sevilla nach Santiago de Compostela rund zwei Monate. „Die Ankunft in Santiago fanden wir nicht so toll. Überall Pilgermerchandising: Muscheln, Kacheln und Souvenirs. Nichts für uns!“ Deshalb liefen sie weiter – noch einmal rund 100 Kilometer zum Kap Finisterre. „Wir haben viele ältere Leute getroffen. Ich war ja damals erst 27“, erzählt Leo. „Zach und ich waren da eher die Ausnahme. Aber ein Typ blieb uns in guter Erinnerung: ein junger deutscher Hippie mit Dreadlocks, der bis nach Indien laufen wollte! Keine Ahnung, ob er da angekommen ist.“ Aber auch Leo und Zach hatten Zeiten mit Hippie-Feeling: Am wilden Atlantik entdeckte Zach seine Liebe zum Wellenreiten. Sie schliefen am Strand, fuhren mit einem Typ mit VW-Bus von Festival zu Festival, arbeiteten auf einer Farm in Portugal. Irgendwann war das Jahr Auszeit vorbei und die beiden kehrten nach Deutschland zurück. Leo arbeitete wieder als Friseurin, Zach begann eine Schreinerlehre. Die erste größere Anschaffung? Ein VW-Bus.

Alles beim Alten?
Irgendetwas hatte sich verändert – die Reise wirkte nach. Leo wollte nur noch drei Tage die Woche arbeiten. „Ich wollte einfach mehr Zeit für mich haben, aber auch Zeit für meine Familie. Drei Tage waren ein guter Kompromiss. Ganz klar, ich musste dadurch mit deutlich weniger Geld auskommen. Aber das war ich ja jetzt gewohnt!“ Leo und Zach hatten ein Jahr kein Fernsehen geschaut, keinen großen Luxus gehabt, nur ein paar Klamotten dabei und abends meist ein paar Nudeln gekocht, manchmal einfach mit Wildkräutern, die sie am Wegesrand gesammelt hatten. Sie hatten andere Menschen getroffen, die mit wenigem zurechtkamen, und gesehen, dass das funktioniert. „Das verändert einen!“, stellt Leo fest. Wie Thomas packte auch Leo und Zach die Sehnsucht, wieder loszuziehen. Es dauerte genau zwei Jahre, bis sich Leo und Zach erneut auf den Weg machten. Diesmal liefen sie den Jakobsweg von Porto nach Santiago und wieder zurück. Rund drei Wochen waren sie unterwegs. „Es ist da absolut keine Sinn-suche bei mir im Spiel. Ich bin viel mehr von der Naturerfahrung angefixt. Das Laufen durch die Natur. Das Erleben der Natur, das Schlafen in der Natur! Meist ist der erste Tag gut. Dann wird es für den Rest der Woche hart. Die Füße voller Blasen. Aber dann wird es gut. Richtig gut!“ Seit dieser zweiten Tour vor drei Jahren hat sich bei den beiden einiges getan: Leo hat ihr Studium der Sozialpädagogik beendet und wird im Bereich der Medienerziehung arbeiten. Zach studiert nach seiner abgeschlossenen Lehre als Schreiner Architektur. „Es hat sich eine Menge verändert bei uns – kann schon sein, dass das irgendwie mit unseren Wandertouren zusammenhängt. Und wenn ich jetzt so mit dir über das Wandern rede, dann würde ich am liebsten auf der Stelle meine Wanderschuhe anziehen und loslaufen“, sagt Leo lächelnd. Bei Thomas sieht das übrigens ähnlich aus. Er hat auf seinem Handy bereits ein Foto eines Hinweisschildes am Franziskusweg abgespeichert, darauf steht „Roma“. Sein nächstes Ziel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

eins × 2 =