Das Barfuß-Experiment

Die Welt mal mit den Füßen entdecken: Barfußlaufen.Sie ertasten spitze Steine oder feinen Sand. Sie fühlen, ob die Grashalme einer Wiese frisch und federnd sind oder strohähnlich nach dem nächsten Regen dürsten. Füße können als eine Art Sinnesorgan fungieren – doch was, wenn das Wetter nicht mitspielt?

Als ich diesen Text schreibe, ist Frühling. Ich freue mich auf die kommenden zwei Wochen: Für meinen Artikel, der im Sommer erscheinen soll, habe ich mir vorgenommen, meine Füße als Sinnesorgan auszuprobieren. Wie schön wird es sein, den Frühling einmal ganz anders zu begrüßen, barfüßig über erblühende Wiesen zu streifen und die ersten Sonnenstrahlen zu erhaschen. Meine Fußsohlen als Verbindung zur Erde, über die ich laufe. – Doch das Wetter meint es nicht gut mit mir …

Bloße Haut auf hartem Grund
Mit bloßen Füßen können wir den Untergrund erkunden, unsere Füße ähnlich tastend einsetzen wie die Hände beziehungsweise Fingerspitzen. Fußsohlen erfühlen den Boden, nehmen Temperaturunterschiede wahr, bemerken, ob sich kleine Kieselsteinchen oder größere Steine in die Haut drücken. Barfüßig stellen wir fest, ob der Boden weich und federnd oder hart und steinig ist. Mit der Zeit haben wir es jedoch oft verlernt, unsere Füße so zu nutzen. Schon in jungen Jahren steckten Eltern sie in Schuhe – dabei sind gerade Kinder noch extrem gut im Barfußlaufen und probieren sich unerschrocken aus. In einer 1999 durchgeführten Studie gab ein Drittel der Kinder an, niemals barfuß gelaufen zu sein. Als Erwachsene hasten wir dann in mehr oder weniger bequemen Schuhen durch die Stadt, zur Uni oder ins Büro. Der Alltag lässt uns keine Zeit, unsere Füße wenigstens ein paar Momente lang bewusst den Reizen des Untergrunds auszusetzen.

Eiskalter Start
Meine erste Trainingseinheit dauert nicht lang, denn es sind minus fünf Grad am Morgen – Nachtfrost im Frühling, na toll! Ich zwinge mich dennoch, einmal ums Haus zu gehen. Widerwillig schaffe ich es auf den Asphalt, spüre den rauen Boden unter den nackten Füßen und gehe unbeholfen und steif los. Erst merke ich noch jeden kleinen Stein. Dann ist da nichts mehr außer Schmerzen. Die Kälte tut so weh, dass ich die letzten Meter fluchend zur Haustür renne. Meine Füße sind eiskalt und taub. Eventuell sogar abgestorben, denke ich, so wenig spüre ich sie. Drinnen bitzeln und brennen sie ziemlich, während sie langsam wieder auftauen. Immerhin ein ähnlicher Effekt wie beim Kneippen. Ob dieses Experiment eine gute Idee war?, denke ich leicht ungnädig wegen der Schmerzen.

Wunderwerk Fuß
Schon Leonardo da Vinci beschrieb den Fuß im 16. Jahrhundert ehrfürchtig als „ein Kunstwerk aus 26 Knochen, 107 Bändern und 19 Muskeln“. Damit wir Menschen effektive Haltungs- und Bewegungsmuster erlernen können, benötigt unser Zentralnervensystem sogar kontinuierlich unverfälschte Informationen über den Untergrund, auf dem wir laufen. Unsere Fußsohlen sind zu diesem Zweck mit einer Vielzahl von Sinneszellen ausgestattet, die durch den direkten Bodenkontakt Informationen erfassen und verarbeiten können. Ein wichtiger Lernprozess für kleine Kinder und auch noch für Erwachsene. Es ist leicht zu erahnen, dass Schuhe mit hohen Absätzen oder dicken Gummisohlen nicht allzu viel bis zur Fußsohle durchlassen.
Während meines selbstauferlegten Leidensweges probiere ich einiges aus. Ich laufe jeden Abend ein Stück länger barfuß, teste verschiedene Untergründe. Dreimal muss ich auch bei Regen hinaus. Immerhin wird es nicht mehr so kalt wie am allerersten Tag. Trotzdem beglückt dieser Frühling mich nicht unbedingt mit meinem fürs Barfußlaufen favorisierten Wetter. Im Laufe der zweiten Woche merke ich, dass ich nicht mehr so empfindlich auf Unebenheiten reagiere. Meine Fußsohlen gewöhnen sich an die Herausforderung. Über die Straße, die sich zu Beginn noch wie eine Ansammlung vieler hundert Stecknadeln anfühlte, kann ich mittlerweile so grazil gehen wie zuvor nur in schützenden Schuhen.

Barfuß durch die Steinzeit
Unsere steinzeitlichen Vorfahren liefen viel barfuß, trugen daneben aber auch schon Schuhe: Ötzi soll welche aus Hirschfell mit einer Sohle aus Braunbären-Leder sein Eigen genannt haben. Sie wurden von Schnürsenkeln zusammengehalten, schützten vor Verletzungen und waren durch ihre dünne Sohle gleichzeitig sehr flexibel. So konnten sich die Füße beim Gehen ständig an die Gegebenheiten des Bodens anpassen. Barfußgehen oder das Gehen auf dünnen Sohlen stärkt und trainiert die Fußmuskulatur. Das ist wichtig, weil diese Muskeln das Quer- und Längsgewölbe an der Fußunterseite stützen. Verkümmern diese Muskeln, können sich Fehlstellungen wie Platt- oder Senkfüße bilden. Ärzte raten sogar dazu, gelegentlich barfuß zu laufen, um dem entgegenzuwirken. Vielleicht kommt mein Training also auch meinem Senk-Spreiz-Plattfuß zugute. Für längere Wegstrecken nutze ich allerdings eine moderne Variante von Ötzis Barfußschuhen: Sie haben dünne, flexible Sohlen und keine Sprengung, das heißt wenig bis kein Gefälle zwischen Ferse und Vorderfuß. Sie sind vorne etwas breiter und lassen dem Fuß so mehr Raum. Laufen in diesen Schuhen fordert, ebenso wie das Barfußlaufen, die Fußmuskulatur stärker heraus als festes Schuhwerk. Die Fußreflexzonen werden stimuliert. Auch ich habe regelrecht Muskelkater nach längeren Wanderungen in solchen Schuhen, im Alltag sind meine Füße aber insgesamt merklich entspannter als früher.

Übung macht den Meister
Viele Menschen, mich vor meinem Experiment eingeschlossen, können sich das Barfußlaufen heute nur noch auf glattem Fliesen- oder Parkettboden vorstellen. Schon auf dem Weg zum Briefkasten erscheint jedes noch so kleine Steinchen als Hindernis. Mit ein bisschen Durchhaltevermögen und Übung vergeht diese Empfindlichkeit aber schnell. Das habe ich in den vergangenen Tagen gemerkt. An meinem vorletzten Tag habe ich doch noch richtiges Glück: An einem wunderbar sonnig-milden Samstag kann ich das Barfußlaufen so richtig auskosten und finde eine himmlisch weiche Wiese, die mich die Strapazen der kalten, feuchten Tage vergessen lässt. Für alle, die keinen Abgabetermin einzuhalten haben und sich langsam ans Barfußlaufen herantasten wollen, bietet sich der Sommer am besten zum Experimentieren an. Die Abende sind lang und hell, ein Spaziergang um den Block oder ins Feld ist das perfekte Trainingsprogramm. Allerdings bleiben die Augen dabei besser auf den Boden als das Smartphone gerichtet – falls doch einmal Glasscherben den Weg kreuzen.

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